„Stille Post“ von Christina von Braun. Ein Versuch über das, was nicht in Biografien steht …

Die unbewussten „Aufträge“ unserer Vorfahren …

Jeder kennt den Weltraum-Raketenbauer Wernher von Braun. Nicht ganz so viele werden sich erinnern, dass er und sein Bruder Magnus jr. vor ihrer amerikanischen Karriere Top-Ingenieure der NS-Rüstungsindustrie waren. Und die wenigsten werden wissen, dass eine gewisse Hildegard Margis, Schwiegermutter des dritten Bruders Sigis(mund) von Braun (und Großmutter der Autorin), ein NS-Opfer war. Die alleinerziehende Mutter (Weltkrieg-1-Witwe) hatte sich unter den Nazis von einer nationalkonservativen, aber emanzipierten und sehr erfolgreichen Geschäftsfrau in eine Liberale verwandelt. Sie schloss sich einem Oppositionsbündnis an, dem auch Kommunisten angehörten, wurde verhaftet und starb kurz darauf im Gefängnis. Nach dem Krieg taugte sie – aus den bekannten ideologischen Gründen – weder im Osten noch im Westen als Vorbild, und wurde vergessen.

Bis sich die Autorin, Filmemacherin und Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun (geb. 1944)  ihrer zu früh verstorbenen Großmutter Hildgeard Margis zuwandte. Das Buch „Stille Post“ berichtet von ihren Recherchen – und von einer Erkenntnis, die Überlieferung von „Familientraditionen“ betreffend.

Zunächst fiel der Autorin ein wesentlicher Unterschied in dem Material auf, das sie fand:
Da gibt es zum einen die Autobiografien männlicher Familienmitglieder. Sie verraten wenig Privates, aber viel von dem Bild, das die Verfasser von sich hinterlassen wollten. Zum andern gibt es die Briefe und Tagebücher, geschrieben vor allem von den Frauen der Familie. In ihnen stößt die Enkelin auf eine Schicht der Geschichte, die unterhalb, ja sogar oft quer zur offiziellen Version verläuft.

Klar, dass Briefe und Tagebücher mehr über die Irrungen und Wirrungen der Individuen verraten, über Emotionen, Sorgen und Fehleinschätzungen, als eine nachträglich verfasste, resümierende Autobiografie. Aber Christina von Braun geht noch mehr in die Tiefe:

Zwischen all den unzensierten, aber doch ausgesprochenen Nachrichten kommt sie jenen unausgesprochenen Botschaften auf die Spur, die als „stille Post“ von Generation zu Generation „Aufträge“ transportieren: Haltungen, die es weiterzuführen, Erwartungen, die es einzulösen, Erfahrungen, die es zu heilen gilt. Positives wie Negatives.
Sehr oft werden die Aufträge ganz unbewusst übernommen. Entsprechend groß ist die  Gefahr, daran zu scheitern.

Christina von Braun erlebte es in ihrer eigenen Familie: Den Auftrag der Großmutter konnte deren Tochter nur zurückweisen. Doch die psychoanalytisch geschulte Enkelin findet heraus, warum, und kann nun ihrerseits und bewusst den (von der Mutter in einer Art Negativform weiter transportierten) Auftrag annehmen – und sich mit ihrer Mutter versöhnen.

Das Buch „Stille Post“ geht auf die bekannteren Brüder Wenher und Magnus von Braun nicht näher ein. Über sie gibt es ja auch schon viele Bücher. Als Onkel bilden sie höchstens einen Teil jenes Hintergrunds, vor dem die Autorin auf sehr sensible, kluge und schöne Weise zeigt, warum die Menschen einer Familie oft so verschieden sind. Man staunt, was dieser „Cocktail“ für die nächste Generation bedeuten kann – und auf welchen Weisen und Wegen er weitergereicht wird.

Das Buch ist 2007 bei Ullstein erschienen.

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