das Schreckliche in der Autobiografie

Wie bringt man es nur fertig, grauenhaften Erlebnissen eine Sprache zu geben? Gibt es überhaupt passende Wörter für extrem schlimme Ereignisse?Und wenn ja, wie beginnt man damit, sie aufzuschreiben?

Der Geiger Michael Wieck (1. Konzertmeister des Stuttgarter Kammerorchesters unter Karl Münchinger) hatte als Kind in Königsberg (Ostpreußen) nur mit viel Glück die Nazizeit überlebt – er war „Sternträger“, wie seine jüdische Mutter, die auch nur zufällig der Vernichtung entging. Bei Kriegsende war die Stadt völlig zerstört und die meisten der verbliebenen deutschen Bewohner, gleich ob sie Juden oder Christen oder sonstwas waren, verhungerten, wenn sie nicht von Russen getötet wurden, die keinen Unterschied mehr machten in ihrer Rache an den verhassten Deutschen.

Drei Jahre sicherte der halbwüchsige Michael Wieck mit schierem Glück und einer ganzen Portion krimineller Energie das eigene Überleben und das seiner Eltern. Dann durften sie in den russischen Sektor ausreisen, von wo aus sie nach Berlin und in den Westen flüchteten. Er konnte endlich Musik studieren, floh dann vor der deutschen Wiederaufbau-Wir-haben-nichts-gewusst-Mentalität einige Jahre nach Neuseeland, bevor er wieder in das Land seiner geistigen Heimat zurückkehrte …

Sein „Zeugnis vom Untergang Königsbergs“ ist –  erstaunlicherweise – ein ermutigendes Buch. So differenziert und genau sind hier äußere und innere Erlebnisse geschildert, so klar schält sich seine Botschaft heraus: Mitmenschliche Kooperation und das Korrektiv der Vernunft sind möglich! Menschen können in Frieden zusammen leben, wenn man sie nur „gedeihen“ und lernen lässt! Sie könnten sogar lernen, als Völkergemeinschaft ihren bedrohten Planeten zu retten! Sein Menschenbild, das sich auf Kant, und sein Gottesbild, das sich auf Spinoza beruft, begründen diesen weiten, freien Blick und diesen (vorsichtigen) Optimismus.

Doch zurück zu der Frage: Wie nähert man sich der Aufgabe, Schreckliches in Worte zu fassen?

Michael Wieck hat sich selbst überlistet. Nach den ersten Absätzen über seine Herkunftsfamilie, Geburt etc. springt er zu einer Geschichte, die viel später passierte:

Er ist ungefähr 13 Jahre alt, es gab schon einige kleinere Judentransporte. Dieses Mal jedoch sind es viele hundert Menschen, die beladen mit schwerem Gepäck (erlaubt sind 30 kg, alle haben mehr) zur zentralen Sammelstelle unterwegs sind. Was hier passiert,  lässt sich nicht mehr übersehen, und einzelne Königsberger machen betroffene Gesichter. Michael begleitet seine Klassenkameraden bis in die Sammelstelle, einer geliebten alten Lehrerin hilft er, den schweren Koffer zu tragen. Da sieht er seine Tante Jenny, die erschöpft auf dem Boden sitzt. Sie sieht ihn Hilfe suchend an, dann vorwurfsvoll, ungläubig! Denn er zögert, will seine Lehrerin nicht im Stich lassen und – geht einfach weiter. Als ihm schließlich einfällt, dass seine Eltern sich gewiss um ihn sorgen und er doch eigentlich auf keiner Liste steht, kann er noch knapp entkommen. Der „Verrat“ an seiner Tante quält ihn bis heute. Wohin der Transport ging und auf welche Weise alle ermordet wurden, weiß er nicht.

„Diese Menschen gehörten zu mir, und ich gehörte zu ihnen. Ihr Abtransport war die Amputation eines Teils meines Selbst. – Damit bin ich aber den Ereignissen weit voraus geeilt. Wohl deshalb, um mich gleich zu Beginn mit einem Ruck von jener Erzählsperre zu befreien, mich sofort auch den sehr schmerzenden Erinnerungen bewusst zu stellen.“

Mit einem „Ruck“ die Wörter in Gang bringen, das kann bedeuten, mit einer Episode zu beginnen, die etwas markiert, zum Beispiel ein Gefühl, oder mit einem Bild, das für das Ganze steht … Es ist vermutlich die Szene, die einem als erste einfällt!

Man muss es ausprobieren, ob’s funktioniert.

  • Michael Wieck: Zeugnis vom Untergang Königsbergs – Ein „Geltungsjude“ berichtet. Mit einem Vorwort von Siegfried Lenz. Verlag C.H. Beck, München 2005, vorher 7 Auflagen bei 3 anderen deutschen Verlagen; auch ins Englische und Russische übersetzt.
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