Der Ohrring

Über Eifersucht, Hartgummi und den Beginn einer neuen Freundschaft.

– Ja hallo. Ich bin’s.

– Ah, hallo. Na?

– Ja, also … ich … wir können uns nicht treffen heute, oder morgen. Es geht erst am Samstag, weil …

– Aber wieso? Du hast doch gesagt …

– Ja, also das ist so, dass sie noch zwei Tage länger bleibt, weil … und es war auch sowieso kürzer, also … ist auch egal,  also jedenfalls bleibt sie noch und …

– aber das geht nicht, du kannst nicht … also das … du hast doch gesagt … und jetzt auch noch zwei Tage länger! Das ist …! Das …

– Ja tut mir leid, ehrlich, aber … es ist wichtig und … also bis Samstag.

– Also … he, warte mal, du kannst doch nicht … wo bist du überhaupt?

– Ähm, wir sind gerade in der Stadt, Mönkebergstraße, na ja, was einkaufen.

– Was eink …? Wieso … Eingehängt. Was für ein Scheißkerl! Das gibt’s doch nicht. So ein … ! Was bildet der sich … Was soll ich … Was soll ich denn jetzt …

Der schwarze Hörer liegt schwer auf der Gabel. Pauls Telefon, der wohnt schon ewig hier. Sie verzerrt das Gesicht, möchte losheulen, greinen, schreien, schimpft aber nur: scheiße, dieser Scheißkerl. Die Tränen rinnen. Sie wankt (das eine Dielenbrett knarrt) zu ihrem Zimmer, stöhnt, lehnt sich gegen den weißen, ramponierten Zargen ihrer Zimmertür. Typische Hamburger Altbauwohnung, lang und schmal. Die Türen stehen eigentlich immer offen. Sie ist allein. Wenn Fanny da wäre. Paul sowieso nicht, der ist arbeiten.

– Was mach ich nur? Das kann er doch nicht …

Fanny schimpft immer über Bruno. Aber im Theater, in der Pause, sobald er sich geäußert hat, schwenkt sie oft um, übernimmt seine Einschätzung. Weil er so vehement ist, eloquent auch. Klug, aber radikal. Man kommt nicht leicht gegen ihn an. Fanny sagt: Wie er dich behandelt! Wie du dich behandeln lässt! Offene Beziehung, ha! Sie hat Recht, natürlich. Ein Egozentriker. Natürlich. Aber sie und Paul, das ist auch nicht einfach. Kaum ist das Kind da, stellt sich raus, er ist ein Macho.

Die Ohnmacht ist das Schlimmste. Eine wütende Ohnmacht. Sie fühlt sich wie voller falscher Elektrik, die alle Zellen schwächt. Rauft sich die Haare. Die Tränen quellen. Die Nase ist völlig verstopft jetzt, die Augen bestimmt ganz rot. Das geht schnell. Sie legt Miles Davis auf, Fahrstuhl zum Schafott. Haha, wie passend. Was für ein einsamer Ton, dazu das schicksalhafte Schlagzeug. Die perfekte Musik für diesen Moment.

Die CD ist von Bruno, natürlich. Er ist Spezialist in Sachen Jazz. Unter anderem. Die silbernen Scheiben gibt es noch nicht so lange, die meisten Leute haben noch Platten, aber Bruno hat sich schon eine riesige Sammlung zugelegt, ganze Alben, CDs in Schubern. Nicht nur Jazz, auch Oper, die großen Oratorien fast vollständig. Alles geklaut. Aus politischen Gründen, wenn man ihn fragt, und weil er nicht genug Geld hat. Er wird nie erwischt. Teure Lebensmittel klaut er auch. Er ist anspruchsvoll, was Essen anbelangt. Sie hat es bei Filetsteaks und gutem Käse versucht, normalen Gouda isst er ja nicht. Aber sie wird natürlich erwischt. Zwei Mal schon.

Mit der Musik lässt sich’s fast aushalten, der Schmerz dehnt sich, Zeit verstreicht. Sie holt sich ein Glas Wein aus der Küche und drückt auf Repeat, fühlt sich wie in einem Film. Die Sonne wirft ein helles, mildes Licht ins Zimmer, der halboffene Fensterflügel sendet Reflexe. Vor dem Haus eine frühsommerhelle Kastanie. Der Raum ist groß und hoch. Was soll sie bloß machen?

Anna empört sich nicht über Bruno, zumindest nicht offen, hat sich aber ziemlich zurückgezogen. In der ersten Zeit in Hamburg waren sie beste Freundinnen. Anna hatte sie auch mitgeschleppt auf diese Geburtstagsparty. Zur Unterstützung. Sie wusste nicht, was sie von dem blassen, ehrgeizigen Literaturstudenten wollte.  „Dass ich auch immer solche Langweiler anziehe!“ Bruno war mit ihm befreundet. Oder ein Kommilitone. Zu dritt standen sie dann im Flur und lachten sich tot. Er war sehr amüsant. So hatte sie ihn kennen gelernt. Nur die Art, wie er tanzte, hatte sie befremdet. Raumgreifend. Nicht den Beat, sondern alle Rhythmen dazwischen betonend. Und er schwitzte. Anna findet Bruno anstrengend.

Sie überlegt. Entweder sie betrinkt sich jetzt, oder sie muss etwas tun. Bloß was. Betrinken ist okay. Nur heute, da würde sie so viel trinken, dass man sie einliefern müsste. Vermutlich. Also? Sie hat einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Er ist nicht da. Mit ihr auf der Mönkebergstraße! Ausgerechnet. Das muss ja eine dumme Nuss sein. Fannys Käfer steht irgendwo vor der Tür und sie hat den Schlüssel. Gut.

Sie verlässt die Wohnung, trabt die ausgetretene Marmortreppe hinunter. Schönes Haus, nicht zu schick renoviert für die Gegend. Die große Holztür fällt hinter ihr zu. Sie sieht gleich, wo das Auto steht. Es springt auch an. Sie schiebt die Kassette wieder rein. King Sunny Ade. Heiterer Sound. Gute Erinnerungen, aber nicht an Bruno. Jetzt ist sie beinahe gut gelaunt. Entspannt.

Zehn Minuten später parkt sie in seiner Straße, die von der Rückseite eines Einkaufszentrums abgeht. Fast nur Wohnblocks aus den fünfziger Jahren, der Konsumpalast ist schäbiger, aus den Siebzigern. Bruno wohnt in einem ordentlichen vierstöckigen Haus im zweiten Stock. Es gehört seinem Vater, seine Schwester wohnt unterm Dach. Sie schließt die Haustür auf. Vermutlich ist im ganzen Haus niemand da. Es ist vollkommen ruhig, nur gedämpfte Straßengeräusche, und ihre Schritte, die im Treppenhaus hallen. Nicht sehr, dafür ist es zu klein. Sie nimmt zwei Stufen auf einmal. Wie immer.

Vor der Wohnung hält sie inne. Lauscht. Nichts. Eine glatte Tür, mahagonifarben, mit Guckloch und Fußabtreter. Sie schließt auf.

Im Flur fällt ihr Blick sofort auf das Tischchen. Für Schlüssel und ähnliches. Sie fand solche Tischchen schon immer blöd. Er nicht. Er ist ordentlicher. Da liegt ein Ohrring. Vor Zorn heult sie auf. Der gehört dieser … Person! Schlampe! Diesem Miststück!

Das also ist Nummer eins. Sie packt das Stück mit beiden Händen, um es zu zerbrechen. Oh. Gummi! Hartgummi. Etwas verbogen legt sie es wieder hin. Lacht beinahe, schnaubend. Okay, okay, nicht sie ist das Problem, sondern er. Auch gut.

Nun zerlegt sie seine Wohnung. Eine ordentliche, geradezu systematische Wohnung. Zwei Zimmer. Das eine ist ganz weiß gestrichen, auch der Fußboden, und leer bis auf ein schwarzer Klavier, zwei schwarze Boxen und eine Solo-Liege aus Chrom mit schwarzem Polster. Ein halblegal erstandener Klassiker zum konzentrierten Hören und Lesen. Sie findet nicht, dass man darauf liegen kann. Das zweite Zimmer ist voll: zwei Bücherwände, eine dritte für die Plattensammlung, CDs obenauf in langer Reihe, und die Anlage. Darüber ein gerahmtes Bild, das mit einer vorigen Freundin zu tun hat. Ein Jahr Aix en Provence. Außerdem eine Zimmerpflanze und zwei Trommeln, aus Afrika mitgeschleppt. Die Motten, die darin wohnten, haben zuerst die Trommelfelle außen kahl gefressen und sind dann auf den Teppich ausgewandert. Das hat ihn maßlos geärgert. In der Mitte, auf einem Teppich, das Bett, eigentlich nur eine breite Matratze. In einem Schrank im Flur die Kleider. Ein winziger Essplatz in der Küche, ein kleines Bad.

Sie hat es nicht wirklich geplant. Es geschieht. Folgerichtig. Zuerst fegt sie die Bücher vom Regal, haut das Bild oben drauf. Die Scherben auf dem Bett gefallen ihr. Auf dem weiß lackierten Fußboden verstreut sie Müsli und Mehl und Marmelade, wirft ein paar Klamotten hinein, rührt darin herum. Sie schüttet Milch und Bier aus dem Kühlschrank auf den Fliesenboden der Küche, dazu Kaffeepulver und was sich sonst noch in der schmalen Speisekammer findet. Zerschlägt die Tassen, die sie ihm geschenkt hat. Die Schokolade steckt sie ein. Den kleinen Tisch und die beiden Stühle wirft sie um, auch das schwarze Designerteil im Zimmer. Im Bad schüttet sie sein edles Rasierwasser in den Ausguss, schmeißt den Flacon auf den Fußboden, fegt den Rest von der Ablage dazu.

Sie sieht sich um. Das Klavier und die Anlage bleiben verschont. Sie ist wütend, aber nicht verrückt. Was noch? Da, der Pullover. Oben türkis, unten schwarz, diagonal, hinten auch. Sein Entwurf. Und ganz dünne Wolle, mit Kaschmir. Sie hatte versprochen, ihm einen zu stricken, und dann ewig daran gesessen. Ewig. Erfreut nimmt sie das hässliche Stück, legt es mitten in den Flur und breitet es sorgfältig aus. Sie holt die Schere aus der Küche, schneidet langsam und sorgfältig. Der Willkommensgruß. Bevor sie die Wohnung verlässt, wirft sie noch einen Blick dahin, wo der Ohrring liegt, grinst. Er hat ein bisschen was abgekriegt. Na ja.

– Ja, hallo? Hallo Bruno.

– Du warst das, oder?

– Ja.

– Also, ich kann das verstehen. Ich meine, ich hab alles verstanden, alle Zeichen.

– …

– Nur die Schokolade, warum hast Du die Schokolade aufgegessen?

– Ich hatte Hunger.

Eineinhalb Jahre und eine Abtreibung später ist es vorbei. Endlich. Sie haben bereits im Café Schöne Aussichten gesessen und zusammen geheult, weil sie es trotz aller Kämpfe nicht hingekriegt hatten mit ihrer Liebe. Dass es endgültig war, daran gab es sofort keinen Zweifel. Nun besucht sie ihn in Baden-Baden. Die Wohnung hier hatten sie noch gemeinsam renoviert, also hauptsächlich sie. Sie hatte auch ein Zimmer bezahlt, sogar bezogen, obwohl sie weiter in Hamburg lebte und arbeitete. Er hätte sich die Miete allein nicht leisten können. Als alles fertig war, hatte er gesagt: es ist die Hölle, wenn du da bist. Selbst das war noch nicht das Ende. Das kam heimlich eines Nachts, als sie sich  ihr eigenes Zetern nicht mehr glaubte.

Sie ist ihm nicht mehr böse. Sie sitzt auf dem kleinen Balkon und trinkt Milchkaffee aus einem „bol“. Das Elsass ist nicht weit, in der „Rose“ hatten sie sich oft gestritten. Zum letzten Mal, als Walter dabei war, auch aus Hamburg. Bruno hatte geweint. Sie sowieso. Es war so erbittert. Beim Abschied am nächsten Morgen am Zug redeten sie wieder von Verständnis und Verbesserung. Doch ihr heimliches Staunen in der Nacht, ihr fremder Blick auf die eigene Empörung, hatte schon alles verändert.

Heute wird sie sie kennen lernen. Die andere. Ding dong. Sehen kann sie nicht, wer unten vor der Tür steht. Bruno geht öffnen. Stimmen. Die beiden kommen die Treppe hoch. Sie tritt vom Balkon ins Zimmer.

– Hallo, ich bin Vera.

– Hallo, ich bin Sybille.

– Tja.

– Ja.

Sie findet sie sofort sympathisch. Sehr sympathisch. Trägt schöne Ohrringe, groß, Modeschmuck, sehr geschmackvoll. Kein Gummi diesmal, Holz vielleicht. Sie denkt: Hätte ich sie eher kennen gelernt, wäre alles ganz einfach gewesen. Bestimmt. Vielleicht. Sie sehen sich an. Lächeln.

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