Marlene Strenger gewinnt GYF-Wettbewerb

Eine Teilnehmerin des letzten Workshops hat es mit ihrer Geschichte unter die 10 Gewinner des GYF-Wettbewerbs „Ruhrgebiet: Identität und Wandel“ geschafft:
Herzlichen Glückwunsch!!!
Beim Foto-Termin für das geplante Buch war das Tor zum Stadion abgeschlossen, weder der Journalist noch der Fotograf hatten daran gedacht, den Schlüssel zu besorgen. Marlene sah sich die Sache an und meinte, man könne doch rüber klettern! Was sie dann auch tat. Die beiden jungen Herren, die sich behilflich zeigten, staunten nicht schlecht.
Mit 76 über’n Zaun? Na sowas!

Und hier kommt ihre Geschichte:

Der Schauplatz meines Lebens

Der Ort, der mein Leben geprägt und mir unvergessliche Erinnerungen beschert
hat, ist ein Sportplatz: das Mathias-Stinnes–Stadion in Essen Karnap.
Im Schuljahr 1949/50, ich war ungefähr 12 Jahre alt, bekamen wir den Sportlehrer
Jenneckens. Er wusste, wie man Kinder für die Leichtathletik begeisterte. Mit viel
Geduld und Können zeigte er uns, wie wir schneller laufen, beim Schlagball weiter
werfen und die Technik beim Weitsprung verbessern konnten. Ich machte alles
gerne. Hier konnte ich so viel Neues lernen! Das war wichtig für mich. Damals hätte
ich eine weiterführende Schule besuchen können, aber daran war nicht zu denken.
Das Schulgeld, die Fahrtkosten und die Schulbücher, das musste ja alles bezahlt
werden. So viel Geld konnten meine Eltern mit drei Kindern nicht aufbringen. Mein
Vater war bei der Werksfeuerwehr auf der Zeche Mathias-Stinnes.
Aber im Turnverein Karnap 04 durfte ich mich anmelden. Sonntags, wenn es das
Wetter zuließ, fassten alle Turner- und Turnerinnen mit an und holten das Rhönrad
und den Barren vom Geräteraum auf den Sportplatz. Auch ich durfte mithelfen.
Dann wurden unter Aufsicht die Geräteübungen probiert. Zu Anfang war alles neu
und ungewohnt für mich, doch es ging von Mal zu Mal besser. Es war herrlich, unter
freiem Himmel an den Geräten zu turnen.
An zwei Nachmittagen in der Woche hatten wir für die Vereinsmeisterschaften und
für das Schulsportfest zu trainieren. Es war spannend, weil ich mich von Woche zu
Woche in meinen Leistungen steigerte. Die Meisterschaften rückten näher. Meine
Mutter sagte zu mir: ,,Ich glaub, eine neue Turnhose wäre auch nicht schlecht,
Marlene. Ich hab noch ein Stück schwarzen Stoff. Den hat mir Tante Grete mal
gegeben.“ So kam ich zu einer Turnhose aus schwarzem Satin. Ein glänzendes
Modell! Der einzige Nachteil war, es knitterte.
Lehrer Bussmann, der von allen Mädels sehr verehrt wurde, auch von mir, kam
eines Tages an und sagte: „Marlene, ich hab da was für dich.“ Er hielt ein Paar
Spikes in der Hand, die er mir leihen wollte. Das waren Schuhe mit Nägeln, in
denen man beim Laufen einen besseren Bodenkontakt hatte. Ich konnte es kaum
glauben! Nur waren sie mindestens vier Nummern zu groß. Ich habe sie aber gerne
genommen und einfach mit Papier ausgestopft.
Meine Eltern hatten nichts dagegen, dass ich mich so für den Sport begeisterte,
auch wenn ich unseren Garten als Laufstrecke benutzte. Den kurzen Weg zwischen
den Gemüsebeeten rannte ich vor und zurück, vor und zurück. Ein halbhoher
Sauerkirschbaum stand dort auch, und am Ende ein Stall voll Hühner mit einem
Hahn und einem Schwein. Das wurde im Winter geschlachtet.
Endlich kam das Schulsportfest. Der Sportlehrer, der uns mit seinem Ehrgeiz und
seiner Begeisterung angesteckt hatte, stellte die Staffel auf. 8 x 50 Meter. Wir
waren acht nette, freundliche, durchtrainierte Mädels, und weil wir uns schon
immer kannten, kannten wir auch unsere Macken. Doch Herr Jenneckens wusste
unsere Schwächen in Stärke umzusetzen. Das war sein und unser Glück! Wir
machten den 1. Platz und holten für unsere Schule eine Ehrenurkunde und ein
Ölgemälde mit einer Naturlandschaft. Das Bild habe ich immer noch vor Augen.
Heute bin ich 76 Jahre alt und zeige seit 24 Jahren jüngeren und älteren Menschen
im Altenheim, in Kirchengemeinden und im Turnverein, mit welchen Bewegungen
sie sich ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden erhalten können. Eine schöne
Aufgabe! Ich habe eine Ausbildung beim Deutschen Turnerbund dafür gemacht und
später noch das Qualitätssiegel „Sport pro Gesundheit“ (nach den Kriterien des
Deutschen Olympischen Sportbundes), damit die Kurse von den Krankenkassen
unterstützt werden können.
Im Turnverein bin ich selbst noch aktiv und trainiere regelmäßig für das
Sportabzeichen. Wie früher, nur der Sportplatz ist ein anderer. Denn seit meiner
Hochzeit, vor fast 53 Jahren, wohne ich in Mülheim an der Ruhr. Nur manchmal
frage ich mich im Stillen: Wie sieht mein altes Stadion in Karnap wohl heute aus?

 

 

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